NACHRUF AUF EINE DEUTSCHE GEISTESGRÖSSE

von

Ferdinand Friedlos




 
“Vor dem Tode ist kein Kraut gewachsen, auch der Lorber nicht.
JEAN PAUL

Wie der Max Fischtruebber-Verlag in Zotenburg heute bekannt gab, ist der renommierte Philosoph  Professor Dr. Leo Flappsiger gestern überraschend verstorben.

Der 1920 in Bad Salz-Schmockstein geborene Flappsiger hatte sich durch seine durch  Heidegger betreute Dissertation zum Thema 'Nietzsches Leben als Seinsquelle  seines Philosophierens' schon früh den Ruf eines großen Nietzsche-Kenners  erworben. So konnte er in seiner frühen Studie nachweisen, dass Nietzsches  letztes Werk, 'Der Wille zur Macht', nichts anderes darstellt als eine  intellektuelle Rebellion gegen eine herrschsüchtige neapolitanische Waschfrau,  mit der Nietzsche sich während seines Italienaufenthalts jahrelang über das  korrekte Stärken seiner Hemdkragen herumstreiten musste. Nachdem Nietzsche der  letzte seiner Kragen geplatzt war, setzte er sich hin und schrieb das berühmte  Werk. Auch hatte Flappsiger nach mühevoller Archivarbeit endlich das Rätsel lösen  können, wo Nietzsche sich die Syphilis geholt hatte, die ihm schließlich zum  Verhängnis wurde. Flappsiger konnte als Überträgerin der Krankheit die Klavierlehrerin von Nietzsches Nichte Edeltraud  identifizieren, die der stets etwas klamme Philosoph gezwungenermaßen in  Naturalien bezahlen musste. Die Begegnung mit dieser in Bayreuth für ihr staubtrockenes Largo bekannten und als spröde und verkniffen verschrieenen Musikpädagogin soll Nietzsche - laut Flappsiger - zur Niederschrift von ‘Jenseits von Gut und Böse’ inspiriert haben.

Später kreidete man Flappsiger allerdings an, dass er dem  damaligen braunen Zeitgeist im Vorwort seiner Dissertation das Zugeständnis gemacht hatte, Nietzsche zu unterstellen, er hätte in der seinerzeit alle tief bewegenden Frage: ”Wollt Ihr  Butter oder Kanonen?” für die Kanonen plädiert, hätte der große Philosoph noch  die bombastischen Zeiten des Dritten Reiches erlebt. Flappsiger konnte allerdings  geltend machen, dass er in persönlichen Gesprächen stets betont hatte, Nietzsche  wäre seiner Einschätzung nach weder der Typ für die Butter noch der Typ für die  Kanonen gewesen, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach der Typ für den Schinken,  also für eine dritte, damals gar nicht diskutierte Option. Mit dieser auch von  unabhängiger Seite bezeugten Aussage konnte Flappsiger nach 1945 wieder viel an  Boden gut machen, war er doch sogar im Gespräch für den hochdotierten Posten eines Sprechers des Verbandes deutscher Schinkenproduzenten.

Mit seinem Doktorvater Heidegger verband Flappsiger in dieser wohl für ihn  glücklichsten Zeit seines Lebens ein herzliches, stets aber von schülerhafter  Ehrfurcht geprägtes Verhältnis. So erzählt man sich noch heute in Freiburg die anrührende Anekdote, wonach Heidegger und Flappsiger eines Nachmittags durch Freiburg philosophierend spazierten bzw. spazierend philosophierten, als sie beide von einem heftigen Platzregen überrascht wurden. Heidegger, der in seiner Zerstreutheit wieder einmal seinen legendären, von vielen Biographen beschriebenen braunen Regenschirm am Lehrstuhl zurückgelassen hatte, stöhnte nur verzweifelt: "Nur ein Gott kann uns noch retten!", worauf sein Schüler antwortete: "Da ist es ja gut, dass SIE in diesem Moment bei mir sind!"

Die Kriegswirren führten Flappsiger über verschlungene Wege an eine ostdeutsche  Universität, wo es ihm 1949 gelang sich bei dem damals sehr bekannten  SED-linientreuen Professor Karl Kaltschnäuzer zu habilitieren. Seine Arbeit  über 'Die Praxis der sozialistischen Geschichtsphilosophie' zog freilich nach  ihrer Veröffentlichung einen empfindlichen Eklat in der ostdeutschen  Intellektuellenlandschaft nach sich, hatte Flappsiger doch eindeutig anhand der  Schriften von Marx und Lenin nachgewiesen, dass der Kapitalismus auf der  Ausbeutung des Menschen basiert, der humanistische Sozialismus hingegen auf der  hingebungsvollen Praxis des Genickschusses. Flappsiger eckte im Besonderen bei  seinen ostdeutschen Philosophenkollegen an, da er außerdem die These aufstellte,  Marx habe stets für den unmittelbaren, direkt aufgesetzten Genickschuss plädiert  und damit dem authentischen Geist des Sozialismus Gestalt gegeben, wohingegen  der von Flappsiger als Abweichler gebrandmarkte Lenin stets einem Genickschuss aus  größerer Distanz (in der Regel ca. 30 cm vom Nacken des selbstkritischen  Delinquenten) das Wort geredet habe. Dies war freilich starker Tobak, und  Flappsiger konnte der am eigenen Leib bzw. Genick drohenden Exemplifizierung seiner eben erst  aus der Taufe gehobenen Theorie über den Genickschuss nur durch eine rasche  Flucht in den Westen entgehen.

Im Westen angekommen, so lässt sich rückblickend feststellen, kam Leo Flappsiger  nun endlich auch bei sich selber an. Nach kurzer Orientierungsphase trat Flappsiger  mit den Worten, er sei immer schon ein erzliberales Urgestein gewesen, in die  FDP ein und wäre über diese verdienstvolle Partei der Besserverdienenden auch  beinahe für den Wahlkreis Buxtehude in den Bundestag eingezogen, hätten sich  nicht vermutlich von der Stasi verstreute Gerüchte verbreitet, wonach Flappsigers stets übel gelaunter  und herrschsüchtiger Rauhaardackel Adi Mitglied der NSDAP gewesen sei. Nachdem sich seine Pläne für eine  politische Karriere zerschlagen hatten, nahm er doch wieder seine alte  Universitätslaufbahn auf. Es fand sich an der Provinzuniversität Zotenburg ein vakanter Philosophielehrstuhl, den niemand sonst haben wollte, da zum einen die zum Lehrstuhl gehörende und an ihm wie eine Zecke haftende Sekretärin für ihre Launigkeit berüchtigt war und noch jeden Lehrstuhlinhaber binnen kurzem hinter sehr enge und einschüchternde Schranken verwiesen hatte. Zum anderen stand der zugeteilte Vorlesungssaal nur am Freitag Nachmittag um eins zur Verfügung, also zu einer nach einstimmiger Meinung der Professorenschaft wie der Studenten dieser sehr christlichen Universität höchst unchristlichen Zeit. Flappsiger schreckten solche Fährnisse freilich nicht ab, denn in den Techniken, die man benötigt, um in totalitären Systemen unter großen oder kleinen Diktatoren zu überleben, war er geübt und Freitag Nachmittag kam er, was seinen Arbeitseifer anging, üblicherweise erst so allmählich in Fahrt, ließ er doch die Arbeitswoche seit seiner Jugendzeit immer sehr langsam angehen. Nach Annahme seiner Berufung genoss er bei seiner überschaubaren Studentenschar bald den Ruf eines liebenswerten akademischen Sonderlings, der niemandem sonderlich weh tat - weder als Publizist noch als Prüfer. Noch Jahre nach seiner Emeritierung erzählte mach sich zum Beispiel gerne und oft Anekdoten, wie die, dass Flappsiger die Universitätstoilette stets mit den Worten betrat: ”Schauen wir mal, was dabei herauskommt.” Unvergessen blieb auch der Tag, an dem Flappsiger mit dem  schmiedeeisernen Kopfteil seines Bettes pünktlich zur Vorlesung erschien, da  eine zwar ambitionierte aber auch etwas schusselige Studentin die Schlüssel für  die Handschellen verschlampt hatte. Durch diesen fesselnden Umstand fühlte sich der  Professor doch etwas behindert, als er mit seiner gewohnt gestenreichen  Ausdrucksweise den für diesen Tag anstehenden kategorischen Imperativ und die in diesem Konzept angedeutete  mögliche Versöhnung von Freiheit und Notwendigkeit erläutern wollte. Geschätzt wurde außerdem allgemein, wie mühelos und mit leichtem Sinne der ursprünglich auch als Schauspieler ambitionierte Flappsiger, trotz seiner chronischen geistigen Inkontinenz, die wichtige Miene zu wahren wusste, zu der er berufsbedingt verpflichtet war.

Privat gelang es Flappsiger rasch, Zugang in erlesene westdeutsche  Intellektuellenkreise zu bekommen. So pflegte er regelmäßig an Freitag Abenden  in dem für seine norwegischen Spezialitäten bekannten Zotenburger Restaurant ”Zum  lustigen Lemming” ein Treffen mit dem renommierten Lyriker Ernst Teslebens  und dem Dichterfürsten Reiner Maria Blanckhohn abzuhalten, wo die drei,  nachdem sie sich stets eine extra große Portion geschmorter Elchhoden und danach den obligatorischen Käseigel hatten servieren lassen, erlauchte  philosophisch-literarische Gespräche führten, die in der Regel bis in die tiefe Nacht anhielten, um dann in das etwas anrüchige  Intellektuellenszenelokal ”Zur platonischen Beziehung” verlegt zu werden, aus dessen im Keller gelegenen finsteren Eingang die drei, wie angebunden um ihren Tisch  sitzend, schließlich das Morgengrauen wahrnahmen, darüber streitend, ob die von der Morgensonne in den Kellereingang hinuntergeworfenen Schatten der ersten frühen Passanten nun bloßen Schein oder reales Sein darstellten. Der Diskurs über diese Frage wurde traditionellerweise irgendwann ergebnislos abgebrochen, indem man auf das Angebot des Kellners - eines gewissen Georg (genannt: “Ganymed”) Tschierling - noch einen letzten Becher vom Bettstädter Buchsbaumschneider, dem an fränkischen Südhängen gereiften Lieblingstropfen des Flappsigers, zu leeren, einging, um dann auf müden Schenkeln sich gegenseitig stützend nach Hause zu torkeln.

Die Erlebnisse in diesem Szenelokal und im Besonderen mit dem Kellner Tschierling inspirierten Flappsiger auch zu dem hegelkritischen Kapitel ‘Gast und Kellner’ in seinem Spätwerk, den ’Zeitgemäßen Betrachtungen’. Dort warf er Hegel vor, er sei in der von ihm entworfenen Dialektik von Herr und Knecht den Anfängen der industriellen Gesellschaft zu sehr verhaftet geblieben, ohne noch analytische Ansatzpunkte für die moderne Dienstleistungsgesellschaft bieten zu können, in welcher nun der Kellner als der paradigmatische Mensch erscheine, der zwar dem Ruf des Gastes zu folgen habe, der sich aber in seinem berufenen Tun zugleich als der Herr über die Zeit eben des ewig wartenden und somit bloß passiven, nur auf das Konsumieren ausgerichteten Gastes erfahre, wodurch die Zeitlichkeit im Akt des Bestellens durch den Gast zum Keim eines kellnernden Selbstbewußtseins, also des sich seiner selbst geschichtlich bewußten Kellners wird und zugleich die Zeit des Gastes durch den Kellner autonom konsumiert wird.

Gestern nun verschied Leo Flappsiger nach einem langen und erfüllten Leben am  plötzlichen multiplen Organversagen, als es ihm an einer Imbissbude in der Zotenburger Fußgängerzone unterlief, gleichzeitig zu  niesen, zu rülpsen und einen fahren zu lassen - eine durch die traditionell sehr schwere fränkische Kost beförderte Koinzidenz von körperlichen Ereignissen, durch die die subjekt-objekthafte Einheit von Körper und Geist, die Flappsiger darstellte, ihr immer schon labiles Gleichgewicht verlor, so dass sich diese beiden Entitäten mit dem Geräusch eines Knallbonbons für immer trennten. Flappsigers letzte bezeugte Worte lauteten: “Das Glück ist ein Tun”, was einige seiner intellektuellen Weggefährten als finales Bekenntnis zur aristotelischen Ethik deuteten. Andere Stimmen hingegen vermuten, er hätte an der Imbissbude lediglich erleichtert "Zum Glück ist es kein Huhn." gesagt.

Seine Witwe, Traudel  Wiesengraß-Flappsiger wird seine Urne, die auf Wunsch des Philosophen nur mit der  schlichten Gravur ”Leo inside” versehen wurde, nächsten Mittwoch der ewigen  Ruhe übergeben.

Flappsigers langjähriger Freund Ernst Teslebens wird bei der Beerdigung eine  eigens gedichtete Ode vortragen, die wir hier, als würdiges Ende dieses  Nachrufes abdrucken wollen:


 ODE AN EINEN FREUND
 Es roch der olle Flappsiger,
 Wie mancher grauer Achtziger.
 Er war nun einmal inkontinent,
 Doch hat er auch so manch Talent,
 Sich anzupassen an der Zeiten Wende.
 Nichtsdestotrotz fand er sein Ende.
 Nun merke lieber Leser
 Östlich oder westlich der Weser:
 Ist dein Handeln auch noch so opportun,
 Du krepierst ja doch wie ein geköpftes Huhn
.
 
 
Publikationsverzeichnis von Leo Flappsiger:
- Der venerische Geist. Nietzsches Leben als Seinsquelle  seines Philosophierens (1943)
- Martin Heideggers ontologischer Dadaismus (1944)
- Die Praxis der sozialistischen Geschichtsphilosophie. Mit einem Exkurs zur Rolle des Genickschußes in der proletarischen Entdinglichung des Menschen (1949)
- Sein und Zeitgeist (1952)
- Das Gehöre der Häusigkeit. Ein Heideggerianer liest Max Weber (1953)
- Reise durch die Hegelei. Preußische Staatsräson und schwäbische Geschwätzigkeit in der Philosophie Hegels (1955)
- Mythos der Syphilis (1956)
- Nicht-Ich und Nichtigkeit. Zu Fichtes intransparenter Transzendentalphilosophie (1957)
- Über den Schmonzes in der Philosophie. Rede an die Gebildeten unter seinen Verächtern (1960)
- Phänomenologie des Schneuzens (1964)
- Metaphysik der Titten. Ein Essay über Freud und die Frauen (1965)
- Micky Maus und Mussolini. Faschistische Elemente in der amerikanischen Kulturindustrie (1969)
- Das Klo. Kritik der Politischen Ökonomie eines dringenden Bedürfnisses (1971)
- Die Pose des Denkers und andere philosophische Possen (1976)
- Der Sinn der Leber. Meditationen eines Trinkers (1978)
- Geschichte und Schicksal der Ironie (1979)
- Zur ästhetischen Theorie der Mettwurst (1980)
- Notdürftigkeit des Alltags und gekachelte Obszönität. Strukturalistische Hermeneutik am Beispiel einer Busbahnhofstoilettenwand (1985)
- Theorie des einträglichen Handelns (1987)
- Der philosophische Börsenkurs der Moderne (1988)
- Mythos Technik. Warum nur die Länge zählt (1990)
- Willis Welt in seiner Vorstellung. Eine Hinführung zur Philosophie für Kinder und Kindgebliebene (1991)
- Öffentlichkeit. Vom Nutzen und Nachteil der Philosophie für das Geschwätz (1992)
- Der umständliche Andere. Philosophische Anthropologie des hinderlichen  Mitmenschen (1995)
- Die Kunst der wichtigen Miene und ihre praktische Anwendung. Ratgeber für angehende Akademiker (1999)
- Was tun? Der Berater-Kapitalismus als höchstes und letztes Stadium des Kapitalismus (2003)
- Grass lesen. Über Zwiebelhäute und Zeitverschwendung (2005)
- Lob des Opportunismus. Eine neoliberale Ethik für unsere Zeit (2008)
- Flappsigers Bemerkungen. Zeitgemäße Betrachtungen (2010)
- Das Schicksal der menschlichen Hand im Zeitalter der Maus. Versuch einer Anthropologie des digitalen Zeitalters (2010)
- Also sprach Dieter Bohlen. Kommunikative Tiefendimensionen der Moderne (2012)
- Einer kroch aus dem Kuckucksnest. Eine philosophische Autobiographie (2013)

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Anmerkung:
Der unter der Rubrik "Aus dem FF" veröffentlichte Teil meiner Webseite ist literarisch-künstlerischer Natur. Die enthaltenen Erzählungen und Berichte sind rein fiktional.
Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

"Man läßt also die ganze Sach an und vor sich selbst dahin gestellet sein, und solle sich ein oder der andere darinnen beleidiget finden, so muß man wissen, daß nicht dieses Buch, sondern seine eigne begangene Fehler daran schuldig sind. Ist also ein solches Buch gleich einem Maler, welcher mit einer Kohle ein Gesicht an die Wand malet, es kommt aber ungefähr ein Fremder dahin, dem dasselbe Gesicht naturel gleich siehet, da weiß jedermann, daß der Maler deswegen nicht die Ursach des Conterfeyes, sondern derjenige selbsten sei, der dem Gesicht gleich siehet."
JOHANN BEER